Geschichte
Die Reichtstagswahlergebnisse (Reinheim) der Jahre 1871 bis
1912 - ein Ausdruck politischer Wandlung
(Quelle: REINHEIMER BEITRÄGE 2: Reinheim im deutschen Kaiserreich;
Herausgegeben vom Magistrat der Stadt Reinheim; 1986)
Fritz Volz
Die politische Entwicklung der letzten Jahrzehnte des ausgehenden Jahrhunderts
war durch mehrere Faktoren gekennzeichnet: Die Gründung des Deutschen
Reiches 1871 machte der Kleinstaaterei und dem Partikularismus
auch formal ein Ende, rückte .nationale Fragen' mehr in den Vordergrund
und erweiterte den politischen Horizont. Darüberhinaus garantierte die
neue Reichsverfassung eine im Vergleich zu bestehenden Länderregelungen
liberale Wahlgesetzgebung mit geheimen und direkten Wahlen, bei denen jeder
männliche Reichsangehöriger über 25 Jahre wahlberechtigt war.
Dagegen waren bei den Landtagswahlen 1911 im Großherzogtum Hessen erst
knapp 20 % der Gesamtbevölkerung wahlberechtigt.
Die Reichtagswahlen bieten deshalb aufgrund der zumindest theoretisch möglichen relativ hohen Wahlbeteiligung eine vergleichsweise breite Datenbasis und sind somit als Indikator für die allgemeine Entwicklung über die politische Einstellung der Bevölkerung gut geeignet. Bestimmendes Element für die politische Entwicklung im Deutschen Reich war die Auseinandersetzung zwischen den Nationalliberalen und der Arbeiterbewegung.
Die Nationalliberale Partei war nach Reichsgründung durch die Verschmelzung von Liberalen und Liberalkonservativen entstanden und wurde mit der Parole Mit Gott, für Kaiser und Reich", die der neuen Verfassungswirklichkeit Rechnung trug, zum zunächst dominierenden Element der Parteienlandschaft. Ihre Stütze hatte diese monarchisch-konservative Partei, die Bismarck und insbesondere dessen Heeres- und Flottenpolitik unterstützte, in den vielen Kriegervereinen, bei Bauern, Handwerkern und im Bürgertum.
Hauptgegner der Nationalliberalen war die Arbeiterbewegung. Deren unaufhaltsames Anwachsen steht in engem Zusammenhang mit der beginnenden Industrialisierung und der damit verbundenen Entstehung einer neuen .Klasse', der Industrie- und Fabrikarbeiter, aus deren Reihen die Sozialdemokratie hauptsächlich ihr Wählerpotential schöpfte.
Die Reichstagswahl 1871 stand noch ganz im Zeichen der nationalen Hochstimmung nach dem siegreichen Krieg gegen Frankreich und der Reichsgründung, so daß die Nationalliberalen 7 von 9 hessischen Wahlkreisen gewannen1, auch den Wahlkreis V2, zu dem Reinheim gehörte. Detaillierte Ergebnisse aus Reinheim und seinen Stadtteilen liegen leider nicht vor, auch in der hiesigen Presse fand diese Wahl nur geringen Niederschlag. Überliefert ist lediglich ein Aufruf zur Wahl des Kreisrates Dr. Küchler von der konservativen Mittelpartei, der auch von den Bürgermeistern Knell (Ueberau) liiert (Spachbrücken) und Vonderheit (Zeilhard) unterzeichnet wurde. Im Wahlkreis V setzte sich, allerdings erst nach einer Stichwahl, der Darmstädter Hofgerichtsadvokat Dernburg als Kandidat der Nationalliberalen gegen den Kreisrat Küchler durch. (Der Kandidat der Sozialdemokraten [damals noch Lassalianer"] erhielt übrigens bei der Hauptwahl bemerkenswerte 20 %.)
Zu den Reichstagswahlen 1878 liegen erstmals auch Einzelergebnisse zu den heutigen Reinheimer Stadtteilen vor. Diese Wahlen waren notwendig geworden, weil die nach einem Attentat auf Kaiser Wilhelm I. von Bismarck im Reichstag eingebrachten Ausnahmegesetze keine Mehrheit fanden und er daraufhin das Parlament auflöste.
Hatten die beiden dominierenden Zeitungen der Region, der in Groß-Umstadt erscheinende Odenwälder Bote" und die Darmstädter Zeitung" (beides konservative Blätter, die den Nationalliberalen nahestanden) den Erfolg der Sozialdemokratie 1877 noch hämisch kommentiert und als Eintagsfliege dargestellt (Stichwahlergebnis: Dernburg 12.250, Liebknecht 10.556 Stimmen) so setzte nun ein scharfer Wahlkampf ein, der sich u. a. in den Zeitungen an Art, Umfang und Zahl der Berichte dokumentiert. Von Versammlungen des Kandidaten der Reichsfreien und Liberalen", wie die Nationalliberalen im Odenwälder Boten" bezeichnet werden, in Nieder-Modau, Groß-Umstadt, Babenhausen und Reinheim, hier im Saale Buxmann, wird ausführlich berichtet. Es erscheinen verschiedene Wahlaufrufe mit entsprechenden Unterschriftslisten, die gleichzeitig, da die Berufe mit aufgeführt werden, Rückschlüsse auf die Klientel der Nationalliberalen zulassen. Ein Aufruf vom 22.6.78 enthält unter anderem folgende Namen:
Reinheim: | Becker, Bürgermeister |
Joh. Buxmann, Wirth | |
Joh. Schmidt, Kaufmann | |
Scriba, Beigeordneter | |
Spachbrücken: | Illert, Bürgermeister |
Mayer, Beigeordneter | |
Neuroth, Lehrer |
Ein Aufruf vom 20.7.1878 ist unterzeichnet von:
Georgenhausen: | Heil, Oeconom |
J. Klock, Lehrer | |
Klock, Gemeinderath | |
Lehr, Bürgermeister |
Mit welcher Schärfe die Sozialdemokraten in diesen Texten angegangen wurden, zeigt ein Auszug aus dem Aufruf vom 20.7.:
Das Volk muß Stellung nehmen gegenüber der Sozialdemokratie, welche den Umsturz aller staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung, die Beseitigung aller Religionen, die Vernichtung des Familienlebens und die Aufhebung der Eigentumsrechte erstrebt!"
Das rothe Gespenst" war auch für die Darmstädter Zeitung" plötzlich zu einer sehr greifbaren Erscheinung geworden."
In dem landwirtschaftlich-bürgerlichen Reinheim und seinen heutigen Stadtteilen bestand allerdings diese Gefahr noch nicht, wie das Wahlergebnis von 1878 zeigt. In Reinheim bekamen die Sozialdemokraten ganze 2 Stimmen, gegenüber 128 für Dernburg, den Kandidaten der Nationalliberalen (im folgenden mit NL gekennzeichnet). In den heutigen Stadtteilen war es ähnlich:
Georgenhausen: | 48 (NL) - 12 (SPD) |
Ueberau: | 94 (NL) - 0 (SPD) |
Spachbrücken: | 69 (NL) - 22 (SPD) |
Zeilhard: | 38 (NL) - l (SPD) |
Es gab also nur in Georgenhausen und Spachbrücken eine nennenswerte Zahl von Stimmen für die SPD und deren Kandidaten Wilhelm Liebknecht, wobei das Ergebnis von Spachbrücken etwas heraussticht und im Verhältnis (2/3 zu 1/3) in etwa dem Wahlkreisergebnis entspricht. Die Stimmen der Freisinnigen und des Zentrums3 können hier vernachlässigt werden, im Vergleich der Reinheimer Ergebnisse im Kreis Dieburg und Wahlkreis müssen sie allerdings herangezogen werden, denn hier spielte das Zentrum eine wesentlich bessere Rolle, wie diese Ergebnisse überhaupt eine völlig andere Tendenz ausweisen als die von Reinheim, so daß ein Vergleich dieser Ergebnisse die jeweiligen Entwicklungen noch transparenter machen. Im Kreis Dieburg sah die Stimmverteilung wie folgt aus:
Dernburg | 4.754 | Wasserburg | 1.612 | Liebknecht | 526 | ||
(NL) | (Zentrum) | (SPD) |
Das Gesamtergebnis des Wahlkreises zeigt ein anderes Verhältnis:
Dernburg | 8.014 | Wasserburg | 3.794 | Liebknecht | 5.504 |
Die traditionelle sozialdemokratische Hochburg Offenbach und Umland veränderten hier das Gesamtbild zugunsten Liebknechts. Da das Zentrum seinen Wählern bei Stichwahlen meist Stimmabgabe gegen die (evangelischen) Nationalliberalen bzw. Enthaltung empfahl, war der Ausgang der notwendigen Stichwahl offen. Deshalb auch rief der Odenwald er Bote am 3.8.78 alle Reichstreuen" energisch dazu auf, ,,den Wahlkreis vor der Schande bewahren (zu) helfen, einem Mann der Umsturzpartei, Liebknecht, dem Anführer der Umsturzbrüder in die Hände zu fallen!!!"
Den Nationalliberalen gelang denn auch eine enorme Wählermobilisierung, Dernburg gewann die Stichwahl, allerdings denkbar knapp mit 11.136 zu 10.539 Stimmen (Kreis Dieburg: 6.341 : 2.615). Auch in Reinheim stieg die Wahlbeteiligung stark an, es kam folgendes Ergebnis zustande:
Dernburg |
Liebknecht |
|
Reinheim: | 247 |
6 |
Georgenhausen: | 47 |
16 |
Ueberau: | 149 |
- |
Spachbrücken: | 110 |
37 |
Zeilhard: | 55 |
4 |
Die Wahlbeteiligung änderte an den politischen Verhältnissen nichts. Die Sozialdemokraten besaßen in Reinheim, Ueberau und Zeilhard weiterhin kein Gewicht, während sie in Spachbrücken und Georgenhausen immerhin etwa ein Drittel der Stimmen für sich verbuchen konnten.
Die Wahlen am 27. Oktober 1881 dagegen brachten einschneidende Veränderungen. Liebknecht gewann, nachdem er bei der Hauptwahl schon die relative Mehrheit für sich verbuchen konnte, auch die Stichwahl im Wahlkreis V mit 11.187 deutlich vor Hallwachs (NL, 7.685 Stimmen). Im Kreis Dieburg kam Liebknecht dagegen bei der Stichwahl nur auf 1.789 Stimmen gegenüber 5.400 für Hallwachs.
Die tendenzielle Stärkung der Sozialdemokratie kam aber auch in Reinheim zum Tragen, wie die nachfolgenden Ergebnisse zeigen. Das Stimmverhältnis bei der Hauptwahl:
Hallwachs |
Liebknecht |
|
Reinheim: | 111 |
26 |
Ueberau: | 132 |
- |
Spachbrücken: | 60 |
47 |
Stimmenverhältnis bei Stichwahl:
Reinheim: | 182 |
33 |
Georgenhausen: | 36 |
13 |
Ueberau: | 142 |
- |
Spachbrücken: | 73 |
65 |
Zeilhard: | 57 |
9 |
Einzig Ueberau und mit Abstrichen Zeilhard blieben unangefochten nationalliberale Hochburgen. In Reinheim und Georgenhausen verbuchten die Sozialdemokraten beachtliche Zugewinne im Vergleich zu 1878, während Spachbrücken deutlich aus dem Rahmen fällt mit fast 50 % Stimmanteilen für die Sozialdemokratie. Das war sicherlich auch ein Verdienst des späteren hessischen Ministerpräsidenten Carl Ulrich, der zu der Zeit Redakteur bei der Offenbacher Zeitung" und führender Kopf der dortigen Sozialdemokraten war. Er machte bei seinen Agitationsreisen in den Odenwald oft Station in Spachbrücken und übernachtete bei Ludwig Hornung, der mit ihm bald freundschaftlich verbunden war. Spachbrücken dürfte damit früher und v. a. intensiver mit der Sozialdemokratie Bekanntschaft gemacht haben als viele andere Gemeinden.
Noch erstaunlicher werden die Wahlergebnisse, wenn man bedenkt, daß sie unter den Sozialgesetzen zustande kamen, die der Sozialdemokratie legales öffentliches Auftreten praktisch unmöglich machten. Die Nationalliberalen konnten diese unerwartete Niederlage nur verblüfft nur Kenntnis nehmen, wie zwei Kommentarauszüge belegen:
Die Stadt (und der Kreis) Offenbach scheinen dem Sozialismus verfallen zu sein . . ." (12.11.81)
Heute . . . schreiben wir es mit tiefschmerzlichen Gefühlen nieder: der undeutsche Mann hat zum ersten Male in unserer Stichwahl gesiegt über den nationalen Candidaten . . ." (16.11.81)
Die Konsequenz für die Wahlen 1884 war ein schärferes Vorgehen gegen die Sozialdemokraten und offensives Auftreten der Nationalliberalen in der Öffentlichkeit. Dies bekam auch Ulrich zu spüren, als eine von ihm in Ueberau einberufene Versammlung vom dortigen Bürgermeister Seibold verboten wurde. Trotz wiederholter Beschwerden bestätigte Kreisrat Hallwachs das Verbot mit der Begründung, daß aufgrund der hinlänglich bekannten politischen Einstellung Ulrichs und seiner bisherigen Tätigkeiten angenommen werden darf, daß die Versammlung nicht zur sachlichen Erörterung sozialpolitischer Fragen oder eines Reichsgesetzes, sondern lediglich zum Zwecke agitatorischer Bestrebungen . . . bestimmt ist."
Durch eine ungewöhnlich früh einsetzende Öffentlichkeitsarbeit über die Presse mit langen Aufrufen und Darstellungen der Kandidaten sowie ihrer Programme versuchten die Nationalliberalen, verlorenen Boden wieder gut zu machen. Gleiches versuchten sie in einer Reihe von meist gut besuchten Veranstaltungen, so u. a. am 25.10.1884, 19.30 Uhr im Buxmann'schen Saale zu Reinheim, am 26.10. in Groß-Umstadt und Groß-Bieberau.
Dennoch war die Wahlbeteiligung so gering wie nie zuvor, im Wahlkreis V gewann Liebknecht wieder die relative Mehrheit, obwohl im Kreisgebiet Dieburg und auch in Reinheim und seinen Stadtteilen die Sozialdemokraten wieder Stimmen verloren. Aus dem Rahmen fällt nur das Ergebnis in Spachbrücken (hier bekam Liebknecht fast doppelt soviel Stimmen wie sein nationalliberaler Kontrahent). Hier dürfte die geringe Beteiligung ausschlaggebend gewesen sein.
Ergebnisse Hauptwahl 1884:
Schlossermacher |
Liebknecht |
Wolz Zentrum |
stimm beberechtigt |
|
Reinheim: | 136 |
19 |
4 |
337 |
Georgenhausen : | 23 |
6 |
|
55 |
Ueberau: | 79 |
14 |
|
169 |
Spachbrücken: | 27 |
47 |
|
197 |
Zeilhard: | 45 |
1 |
|
81 |
Kreis Dieburg: | 2.932 |
814 |
1.682 | |
Wahlkreis V: | 4.545 |
6.924 |
3.348 |
Die Stichwahl brachte dann trotz höherer Wahlbeteiligung wiederum einen Sieg Liebknechts, obwohl der 'Odenwälder Bote' am 5.11.1884 in einem flammenden Appell nochmals darauf hingewiesen hatte, daß die Sozialdemokratie der gemeinsame Feind auf Leben und Tod" sei:
Soll der Umsturz triumphieren über die Ordnung, will man die Greuel
der Revolution, will man sozialistische Verwüstung anstatt Förderung
des Volkswohls in Ruhe und Ordnung?!
Auf ihr Männer, die ihr das Vaterland wahrhaft liebt, auf zur Wahlurne!"
Dieser Aufruf fand im Kreis Dieburg offenbar mehr Resonanz als im nördlichen Teil des Wahlkreises, denn hier wuchs mit der Wahlbeteiligung auch der Abstand zwischen Nationalliberalen und Sozialdemokraten noch weiter an. Die überwiegend konservative Presse und die traditionell landwirtschaftlich-konservative Bevölkerung bewirkten, daß die Sozialdemokraten unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes (Versammlungs- und Veröffentlichungsverbote usw.) auf verlorenem Posten standen. Die Ergebnisse der Stichwahlen zeigen, daß auch in Spachbrücken die Verhältnisse wieder zurechtgerückt wurden:
Schlossermacher |
Liebknecht | |
Reinheim: | 242 |
17 |
Georgenhausen: | 32 |
11 |
Ueberau: | 112 |
11 |
Spachbrücken: | 98 |
55 |
Zeilhard: | 63 |
2 |
Die Wahlen 1887 brachten einen großen Erfolg der konservativen Kräfte und eine Stagnation der sozialdemokratischen Stimmenzahl, was bei einer außergewöhnlich hohen Wahlbeteiligung zu einem erheblichen Rückgang an Mandaten führte.
Notwendig geworden waren die Wahlen durch die von Bismarck angeordnete Reichstagsauflösung. Ursache hierfür war eine Abstimmungsniederlage, die die Regierung bei einer neuen Heeresvorlage erlitt. Diese sah die Erhöhung der Heeresstärke und die Bewilligung des Militärhaushaltes auf 7 Jahre (Septennat) vor. Während die Rechtsparteien (Konservative, Nationalliberale) diese Vorlage uneingeschränkt unterstützten, wurde sie von einer Mehrheit aus Sozialdemokraten, Zentrum, Freisinnigen und Splitterparteien abgelehnt.
In dem teilweise erbittert geführten Wahlkampf hatten die anderen Parteien den einfachen Parolen der Nationalliberalen (Für Deutschland! Es geht um die Machtstellung Deutschlands Deutschland muß Frankreich gewachsen sein") nichts entgegenzusetzen, die, mit alten Vorurteilen arbeitend, eine drohende Einverleibung Deutschlands durch Frankreich suggerierten. Die patriotische, mit chauvinistischen Untertönen durchsetzte Stimmung ist auch in Reinheim und den Nachbardörfern erkennbar. Am 12.2.1887 meldete der Odenwälder Bote die Gründung eines nationalliberalen Vereins für Reinheim und Umgegend. Vorsitzender wurde der Oberamtsrichter Eigenbrodt, Stellvertreter der Apotheker Scriba, Vorstandsmitglieder waren u.a. Bürgermeister liiert von Spachbrücken, der Sparkassenrechner Kilian, die Bürgermeister von Hahn und Habitzheim sowie mehrere Oeconome".
Bei einer von diesem Verein durchgeführten Versammlung war der Buxmann'-sche Saal (Gasthaus Zum Schwanen") nach einem Bericht des 'Odenwälder Boten' Kopf an Kopf gefüllt", sie endete mit einem Hoch auf unseren erhabenen Kaiser", in welches die Versammlung begeistert einstimmte, worauf aus vielen hundert Kehlen das Lied ertönte: .Deutschland, Deutschland über Alles'. Und weiter unten stellt sie abschließend fest: Seit Jahren war eine solche Begeisterung gelegentlich der Wahlbewegung . .. nicht wahrzunehmen ..." Das Wahlergebnis fiel entsprechend aus. Die Nationalliberalen gewannen die absolute Mehrheit im Wahlkreis, in Reinheim und seinen heutigen Stadtteilen bekamen sie 760 Stimmen Liebknecht dagegen ganze 12.
Wahlergebnisse 1887:
Böhm |
Liebknecht (SPD) |
Wolz Zentrum |
|
Reinheim: | 349 |
l |
|
Georgenhausen: | 56 |
|
|
Ueberau: | 137 |
|
|
Spachbrücken: | 142 |
11 |
1 |
Zeilhard: | 76 |
|
|
Kreis Dieburg: | 6.987 |
1.138 |
1.250 |
Wahlkreis: | 11.637 |
8.014 |
3.325 |
Der Sieg der Nationalliberalen konnte aber trotzdem ihren Niedergang und die Zersplitterung des bürgerlichen Lagers nicht aufhalten, die alten Parolen (1890 hieß es auf einer Vertrauensmännerversammlung in Reinheim: ,, . . . die Wahl sei klar, hier Ordnung, Gesetz und Vaterland, bei den sozialdemokratischen Gegnern der Weg zur Revolution und Umsturz") verfingen nicht mehr. Auch in Reinheim wurden die Auswirkungen der beginnenden Industrialisierung zunehmend spürbar. Alte, ehemals blühende Handwerke (Knopfmacher, Küfer, Leineweber) gingen unter und die Kleinbauern verarmten zusehends. Die Eisenbahn ermöglichte den ersten Tagespendlern, die auswärts arbeiteten, abends wieder heimzukehren.
Die Nationalliberalen besaßen in den Kriegervereinen eine starke Basis. In den ortsansässigen Landwirten und im Bürgertum im Kreisgebiet südlich von Dieburg hatte diese Partei ein breites Wählerpotential, so daß sie in Reinheim und Umgebung bis zur Jahrhundertwende die eindeutig dominierende politische Kraft blieben.
Eine Ausnahme gab es allerdings bei der Reichstagswahl 1893, als mit den Antisemiten eine vierte Partei im Wahlkreis kandidierte. Wie im Kreis Dieburg (28 %) kamen die Antisemiten in Ueberau (22,5 %) und Spachbrücken (22,7 %) auf über 20 % Stimmanteile, in Reinheim kamen sie sogar auf 42 % und muß-ten sich den Nationalliberalen (48,6 %) nur ganz knapp geschlagen geben. Für die Stichwahlen riefen die Antisemiten ihre Wähler zur Stimmabgabe für die Nationalliberalen auf, was deren Wahlkomitee im Odenwälder Boten vom 24.6.1893 ausdrücklich als patriotische Handlung begrüßte und als gegen die Sozialdemokraten gerichtet würdigte. Die Nationalliberalen konnten so ihren Stimmenanteil zwar überall fast verdoppeln, den Wahlkreis gewann aber dennoch Carl Ulrich für die Sozialdemokraten mit knapp 1.000 Stimmen Vorsprung.
Wahlergebnisse 1890 - Hauptwahl:
Böhm (NL) |
Ulrich (SPD) |
Brentano (Zentrum) |
|
Reinheim: | 212 |
26 |
|
Georgenhausen: | 48 |
6 |
|
Ueberau: | 124 |
6 |
|
Spachbrücken: | 94 |
32 |
|
Zeilhard: | 76 |
1 |
|
Kreis Dieburg: | 4.686 |
1.661 |
1.369 |
Wahlkreis: | 8.551 |
10.334 |
4.099 |
Wahlergebnisse 1890 Stichwahl:
Böhm (NL) |
Ulrich (SPD) |
Brentano (Zentrum) |
|
Reinheim: | 293 |
17 |
|
Georgenhausen: | 57 |
2 |
|
Ueberau: | 192 |
3 |
|
Spachbrücken: | |
|
|
Zeilhard: | 80 |
1 |
|
Kreis Dieburg: | |
|
|
Wahlkreis: | 11.064 | 13.233 | |
Wahlergebnisse 1893 - Hauptwahl:
Haas (NL) |
Ulrich (SPD) |
Wasserburg |
Criot |
|
Reinheim: | 124 |
24 |
|
107 |
Georgenhausen : | 56 |
|
|
2 |
Ueberau : | 99 |
8 |
|
31 |
Spachbrücken: | 56 |
29 |
|
25 |
Zeilhard : | 68 |
|
|
7 |
Kreis Dieburg: | 3.210 |
777 |
1.327 |
2.177 |
Wahlkreis : | 6.517 |
11.049 |
3.465 |
2.599 |
Wahlergebnisse 1893 - Stichwahl:
Haas (NL) |
Ulrich |
Wasserburg |
Criot |
|
Reinheim: | 254 |
17 |
|
|
Georgenhausen: | 60 |
|
|
|
Ueberau: | 180 |
7 |
|
|
Spachbrücken: | 117 |
35 |
|
|
Zeilhard: | 80 |
1 |
|
|
Kreis Dieburg: | 6.232 |
1.476 |
|
|
Wahlkreis : | 11.813 |
12.837 |
|
|
Nur noch einmal, bei der Reichstagswahl 1903, gelang es den Nationalliberalen, den Wahlkreis V Offenbach-Dieburg zu gewinnen.
Wahlergebnisse 1903 Hauptwahl:
Becker |
Uebel |
Ulrich |
stimmberechtigt | |
Reinheim: | 278 |
|
91 |
370 |
Georgenhausen : | 46 |
|
1 |
63 |
Ueberau : | 134 |
|
44 |
207 |
Spachbrücken : | 85 |
|
81 |
205 |
Zeilhard: | 64 |
|
14 |
95 |
Kreis Dieburg: | 5.364 |
2.259 |
2.245 |
12.543 |
Wahlkreis: | 11.798 |
6.313 |
16.485 |
42.288 |
Die restlichen 5 Wahlen zwischen 1890 und 1914 (1890, 1893, 1898, 1907, 1912) gewann Carl Ulrich, wobei sich der Abstand zum bürgerlich-konservativen Lager ständig vergrößerte. Diese stetige Aufwärtsentwicklung der Sozialdemokratie, die langsam auch auf dem Land Fuß fassen konnte, erreichte, allerdings mit Verspätung, auch Reinheim. 1903 wurde der SPD-Ortsverein Reinheim gegründet, neben dem langjährigen Vorsitzenden Wilhelm Bender (19031918) gehörten u. a. Adolf Heeren und Ludwig Hornung aus Spachbrücken zu den Gründungsmitgliedern. In den folgenden Jahren entstanden in den heutigen Stadtteilen selbständige Ortsvereine, auf Vereinsebene entstanden als Gegengewicht zu den konservativen Kriegervereinen und den Deutsehen Turnern die Freien Turner (Reinheim, Ueberau) Arbeitergesangvereine und Freie Sportvereine (u. a. der ,FSV in Spachbrücken; erster Schriftführer war Ludwig Hornung, den man in Anlehnung an seine Freundschaft mit Carl Ulrich in Spachbrücken den Roten Ulrich" nannte). In den Jahren 19001912 wuchs die Basis und das Wählerpotential der Sozialdemokratie in Reinheim stetig an, so daß die Sozialdemokraten bei den Wahlen 1903 und 1907 in Reinheim, Ueberau und Zeilhard jeweils zwischen 20 % und 28 % der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen konnten. In Spachbrücken hatte sich dieser Anteil sogar bei 45 % eingependelt, während die SPD in Georgenhausen mehr oder weniger bedeutungslos blieb.
Wahlergebnisse 1907 Hauptwahl:
Dern |
Becker |
Ulrich |
|
Reinheim: | 325 |
|
125 |
Georgenhausen: | 48 |
|
8 |
Ueberau: | 149 |
|
54 |
Spachbrücken: | 103 |
3 |
85 |
Zeilhard: | 74 |
|
22 |
Kreis Dieburg: | 6.277 |
2.479 |
3.271 |
Wahlkreis: | 13.478 |
7.385 |
20.256 |
Wahlergebnis 1907 - Stichwahl:
Dern |
Becker |
Ulrich (SPD) |
|
Reinheim: | 335 |
|
116 |
Georgenhausen: | 52 |
|
7 |
Ueberau : | 168 |
|
41 |
Spachbrücken: | 115 |
|
86 |
Zeilhard: | 74 |
|
22 |
Kreis Dieburg: | 7.218 |
|
3.356 |
Wahlkreis: | 16.972 |
|
21.105 |
Die starke Dominanz der Bürgerlichen endete mit den Reichstagswahlen von 1912, die der SPD auch im Reich einen großen Erfolg brachten. Ulrich konnte den Wahlkreis V gleich im ersten Wahlgang mit der absoluten Mehrheit von 24.727 Stimmen (bei insgesamt 45.069) gegen seine vier Konkurrenten von den liberalen und konservativen Parteien gewinnen, in unserer Gegend gab es teilweise erstaunliche Ergebnisse, die die Resultate von 1907 auf den Kopf stellten. In Reinheim gab es fast einen Gleichstand zwischen den zwei Blöcken; in Ueberau konnte die SPD die bürgerlichen Parteien überholen, in Georgenhausen holte sie stark auf. In Zeilhard gewann sie bei extrem niedriger Wahlbeteiligung gerade vier Stimmen.
Das spektakulärste Ergebnis aber konnte Spachbrücken vermelden, dort gewannen die Sozialdemokraten fast dreimal soviel Stimmen wie die bürgerlichen Parteien zusammen. Die SPD hatte sich damit endgültig als politische Kraft auch in unserem Raum etabliert.
Wahlergebnisse 1912:
SPD | Bürgerliche Parteien | |
Reinheim: | 203 |
241 |
Ueberau: | 234 |
217 |
Zeilhard: | 4 |
25 |
Georgenhausen: | 19 |
36 |
Spachbrücken: | 133 |
45 |
1 vgl. Friedrich Höreth, Die Entwicklung
der Demokratie im Odenwald, S. 40.
2 Der Wahlkreis setzt sich aus den Kreisen Dieburg und Offenbach
zusammen.
3 Das Zentrum war die Sammlungspartei der Katholiken.